Jesaja 54,7-10

I Freude und Leid?

Liebe Gemeinde,

„Freuet euch“, lautet der Name dieses Sonntags. Ein seltsamer Name, werden Sie sagen, gerade sind wir doch in der Passionszeit! Wir denken nach über das Leiden und Sterben Jesu Christi, und auch über unsere Lasten, die wir zu tragen haben – und dann heißt es heute: „Freut euch.“

Freuen sollen wir uns an diesem Tag, mit Jerusalem, der Stadt unseres Gottes. Freuen sollen wir uns mit ihr, die in ihrer langen und leidvollen Geschichte nicht immer mit Jubel erfüllt war. Oft gab es Tage, an denen Klagegeschrei in den Gassen zu hören war, über gefallene Soldaten und verlorene Schlachten, über tödliche Krankheiten und Seuchen, denen Mütter und Töchter, Väter und Söhne zum Opfer fielen; geklagt wurde in Jerusalem über Unterdrückung und Korruption von seiten der Reichen und Mächtigen; geklagt wurde über bittere Armut und Einsamkeit. Viele Zeiten gab es dort, in Jerusalem, an denen die Freude keinen Platz hatte.

Unser heutiger Predigttext führt uns in eine Zeit, aus der uns die meisten und schlimmsten Klagen überliefert sind. Nebukadnezar, der babylonische König, war mit seiner Armee in die Stadt eingedrungen. Sie hatten die heilige Stadt belagert und schließlich eingenommen. Jetzt lagen die Häuser in Trümmern und – was am allerschlimmsten war – mit ihnen auch der geschändete und geplünderte Tempel.

Und die Israeliten – sie saßen im Exil, in der Fremde, als Gefangene der Babylonier, sie, das einstmals „auserwählte Volk“. Die Schmerzen über die Trennung von der vertrauten Heimat und von denen, die dort zurückgeblieben waren, lasteten schwer auf ihrer Seele.

Aber nahezu unerträglich erschien der Schmerz bei der Frage nach Gott: Wo war er? Hatte er ihnen seine Nähe entzogen? Wußte er noch, wie es ihnen ging? Sah er ihre Lage – ihre Fragen, ihre Zweifel, ihre Ängste, ihre inneren Nöte – und auch ihre ganz alltäglichen Sorgen und Freuden?

In dieser Situation ertönt die Stimme eines Propheten. Sie spricht von Gott wie von einem guten Freund. Liebevoll und zärtlich klingen die Worte, die der Prophet Deuterojesaja seinem Volk zu sagen hat:

Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.

Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, daß die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, daß ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will.

Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.

III Israels Erfahrung: das Erbarmens Gottes bis heute

„Wer’s glaubt, wird selig“, so sagen wir in der Regel, wenn wir etwas nicht glauben, wenn wir uns betrogen oder an der Nase herumgeführt fühlen.

„Wer’s glaubt, wird selig“, so könnten vielleicht auch manche Israeliten gedacht haben, damals in Babylon, als sie die sanfte Stimme des Propheten hörten. Denn das leidvolle Geschick hat das Volk sensibel gemacht für echte und unechte Töne. Billige Vertröstungen, nach der Art: „Kopf hoch, das wird schon wieder werden, man darf halt nicht den Mut verlieren.“ – könnten die Menschen da eher noch mehr verbittern.

Und auch, wenn Gott ihnen sagen ließe: „Da habt ihr’s nun, das ist jetzt die Strafe. Ihr seid selbst Schuld daran, daß es euch jetzt so schlecht geht!“ – würden sie es in ihrer Situation hören?

Mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser. Was verleiht diesen Worten so viel Gewicht? Was läßt die Israeliten aufmerken und empfinden, daß der Prophet ihnen nicht einfach schönredet? – Es ist die Erinnerung an seinen Bund mit seinem Volk. „Wißt ihr noch, damals – Noah? Denkt ihr noch daran, was ich ihm verheißen habe? Keine Flut soll mehr die Erde zerstören. Nie mehr soll aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht – so wie mein Bund mit euch nicht aufhören soll.

Es kommt euch so vor, als sei ich unendlich weit weg, als hätte ich euch vergessen. Doch meine Gnade gilt auf ewig. Ich stehe zu meinem Ja, das ich zu euch gesagt habe. Meine Gnade weicht dir nicht von der Seite und der Bund zwischen uns ist nicht hinfällig.“

Aus dieser Zusage haben die Israeliten ihre Hoffnung geschöpft. Sie haben gemerkt, daß dies keine einfache Hoffnung ist, denn die Zusage von Gottes Gnade bedeutet kein „Schlaraffenland“, keine fertigen Lösungen, kein müheloses Erreichen aller erwünschten Ziele. Die Gefangenschaft in Babylon dauerte 50 Jahre und die Heimkehr und der Wiederaufbau waren hart. Bis in die jüngste Vergangenheit und Gegenwart hinein lebt das Volk Israel von dieser Zusage Gottes. Wir alle wissen, daß sie alles andere als ein billiger Trost für dieses Volk ist.

IV Unsere Erfahrung: wir sind im Bund Gottes einbezogen

Liebe Gemeinde, wenn wir in Amorbach Gottesdienst feiern und Abendmahl halten, ein Kind oder einen Erwachsenen taufen, werden wir daran erinnert: Gott hat uns in seinen Bund einbezogen. Sein Ja gilt auch uns. Wir sind gemeint. Er, Gott, will uns seine Liebe zuwenden.

Doch auch wir kennen diese Augenblicke der Gottverlassenheit – und wir tun uns genauso schwer mit ihnen wie das Volk Israel. Auch wir müssen immer wieder von neuem buchstabieren, daß Gottes Gnade nicht heißt, alle vorgestellten Ziele problemlos zu erreichen und an Leib und Seele unbeschadet durchs Leben zu gehen. In solchen Augenblicken, die manchmal zu Ewigkeiten werden können, fragen auch wir: „Wo ist Gott?“ Wo ist er, wenn ein Volk gegen das andere vorgeht mit rücksichtsloser Gewalt? Wo ist er, wenn der Terror einer Minderheit langwierige Friedensbemühungen gefährdet?

Wo ist Gott im Leben des arbeitslosen Familienvaters, der keinen Ausweg mehr sieht? Wo ist er im Leben der Witwe, deren Kinder nichts mehr von ihr wissen wollen und deren Gefährtin die Einsamkeit geworden ist?

„Hat Gott seine Nähe entzogen? – denen, deren Leben leer und traurig geworden ist, denen, die allein nicht mehr klarkommen und darum ihr Heil in Drogen, Alkohol oder Sekten suchen? Weiß Gott um jene, die dem Druck der Verantwortung in der Firma kaum mehr standhalten, die am Streit in der Familie fast verzweifeln, die schuldig geworden sind?

Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.

Können wir diese Worte hören, ohne sie als leere Versprechungen abzutun? Gibt es einen Weg, ihre Zuverlässigkeit festzustellen?

Für das Volk Israel tat sich solch ein Weg auf. Sie schauten zurück, auf ihre Erfahrung mit dem Gott, der sein Ja zu ihnen gesagt hatte. Und da war neben all der Klage und dem Leid auch immer wieder die Erfahrung, daß Gott Wort gehalten hat: Er hat mit Noah und Abraham einen neuen Anfang gemacht, sein Volk Israel aus Ägypten gerettet, durch die Wüste geführt und ihm eine Heimat gegeben. Er hat es bewahrt vor Feinden und Gefahren. Dies hat Israel erfahren, und diese Erfahrung gilt auch uns.

Wir wollen innehalten und zurückschauen auf unser Leben und dabei die Spuren Gottes in unserem Leben entdecken, in den guten und in den bösen Tagen. Haben wir unserem Gott gedankt in den Momenten des Glücks, als uns Tränen der Freude über die Wangen liefen? Haben wir nach Gott geschrien, als es dunkel wurde in unserem Leben? Haben wir eine Antwort bekommen? Hat er uns weitergeführt?

Es ist schrecklich, zuzusehen, wie wir oft irgendetwas aus den Leistungen unseres Lebens herauskramen und uns daran festhalten, wie wir uns auch an den Wirkungen trösten, die von uns auf andere Menschen ausgegangen sind. Es ist deshalb schrecklich, weil wir hier, an Selbstbetrug und Unklarheit, ständig unsere Angst und Unsicherheit nähren. Und wenn dann Probleme und Schwierigkeiten kommen, sagen wir meistens: „Wer so leiden muß wie ich, der ist von Gott gestraft, den hat Gott verlassen, von dem hat sich Gott abgewendet …“

Und wir vergessen dabei unseren Predigttext, der etwas ganz anderes sagt: „Du Mensch, hineingeworfen in dein Leben, in deine Hoffnungen und Träume, in deine Ängste und Zweifel – du, Mensch: ich lasse nicht von dir ab. Du bist mir wichtig, deshalb ist es mir nicht egal, was mit dir geschieht. Mein Zorn über dich ist der Ausdruck meiner Liebe zu dir. Ich habe eine Liebesbeziehung zu dir wie ein Mann zu seiner Frau. Ich bin eifersüchtig, zärtlich, ich werbe um dich, ich liebe dich und lasse dich nicht los. Ich gehe mit dir, Mensch, durch dein ganzes Leben. Meine Gnade wird nicht einen Finger breit von dir weichen. Auch in den Katastophen deines Lebens bin ich da, auch wenn du mich nicht mehr spüren kannst. Du sollst wissen, was mein Wille für dich ist: große Barmherzigkeit und ewige Gnade.“

Liebe Gemeinde, können wir diese Zusage Gottes hören und für unser Leben annehmen? Erkennen wir, daß mit dem Wort des Propheten Jesaja unsere Heilsgewißheit nicht mehr abhängig ist von unseren subjektiven religiösen Empfindungen? Ist uns klar geworden, daß Gott sich unwiderruflich als der Barmherzige zu erkennen gegeben hat? Wie könnten wir sonst Gott jemals vertrauen? Wie sollten wir wissen, welche Phase göttlichen Handelns uns gerade trifft, ob Gott es gut oder böse mit uns meint?

Ich kannte einmal einen Mann, der sich nie sicher war, ob Gott ihn liebhatte oder ob er ihn verstoßen habe. Seine Stimmung und seine Gefühlslage änderte sich jeden Tag: manchmal freute er sich, daß er Gottes Kind sei, ein andermal hatte er Angst vor der göttlichen Strafe. Diese Angst braucht uns nicht mehr zu schrecken. Gott hat sich entschieden: für uns. Das steht fest, nach seinem Willen.

V In Jesus wird Gottes Erbarmen vollends offenbar

Liebe Frauen und Männer, Sie wissen, wie weh es tut, wenn in einer Freundschaft oder Partnerschaft einer sagt: „Du bist für mich gestorben.“ Das meint: „Mit dir will ich nichts mehr zu tun haben, alle Brücken zwischen uns sind abgebrochen.“

So, sagt der Prophet, redet Gott niemals. Für Gott sind wir niemals gestorben. Er gibt uns nicht auf. Er hält an seinem Ja zu uns fest. Gott tut noch mehr: Christus starb für uns am Kreuz, um zu zeigen, wie sehr Gott uns liebt. „Führwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, damit wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ – so heißt es wenige Zeilen vor unserem heutigen Predigttext.

Jesus, der am Kreuz stirbt, ruft in seiner Verzweiflung aus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Und am Ende, kurz vor seinem Tode, scheint eine Antwort auf: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Zweifel und Zuversicht liegen auch bei Jesus ganz nahe beieinander. Auch er blieb von den Augenblicken der Gottverlassenheit nicht verschont.

Daß Gott seinen Sohn für uns hingibt, daß er Krankheit und Schmerzen nicht aus der Ferne betrachtet, sondern das „finstere Tal“ selbst bis zur letzten Konsequenz durchschreitet, das muß jeden Vorwurf einer billigen Vertröstung entkräften. Daß Gott unsere Schuld in Jesus Christus selbst auf sich genommen hat – das ist der größte Erweis für sein Ja zu uns!

Gott ist es, der aus der Leidens- und Sterbensgeschichte Jesu eine Heilsgeschichte gemacht hat, für uns und die ganze Welt! Gott ist es, der da war und ist, an jedem Tag unseres Lebens und der zu uns spricht:

Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.

Darüber dürfen wir uns freuen, heute am Sonntag Lätare, und an jedem Tag. Amen.

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