1. Johannes 4,16b-21

Liebe Gemeinde,

ich möchte heute morgen mit einer Frage beginnen: Stellen Sie sich vor, wir würden jetzt jedem von Ihnen einen Zettel austeilen, auf dem folgende Frage stünde: Wonach sehnen Sie sich am meisten? Was würden Sie da wohl aufschreiben? ….. Vielleicht, wer noch sehr müde ist, wird zunächst an sein Bett denken. Bei demjenigen, bei dem in der Familie oder im Bekanntenkreis jemand erkrankt ist, der wird sich vielleicht dessen Genesung wünschen. Wer im Moment selbst vielleicht ein Leiden empfindet, der wird sich wahrscheinlich Befreiung davon gerne vorstellen. Manch einer mag vielleicht auch an Erfolg, an Anerkennung oder Reichtum denken.

Wonach sehnen Sie sich? Vielleicht haben Sie inzwischen diese Frage für sich längst beantwortet. Wonach wir uns sehnen, das sagt oft viel über uns selbst aus. Denn es läßt erkennen, was uns fehlt und was für uns doch wichtig und erstrebenswert ist. Deshalb möchte auch nicht jeder darüber sprechen.

Vor Jahren gab es ein Lied: „All you need is love“ – alles, was du brauchst, ist Liebe. Gibt es ein Thema, das häufiger besungen, beredet, dargestellt wird als die Liebe? Stimmt das, und wenn ja, was meint dieses Wort: Liebe?

Liebe, das kann heißen: Ich habe eine feste Vorstellung von dem, was gut für mich ist, und du sollst es mir geben. Liebe, das kann heißen: Ich sehe, wo ein anderer Hilfe braucht und bleibe nicht gleichgültig. Liebe, das kann heißen: Ich möchte dich besitzen und über dich und deinen Körper verfügen. Liebe, das kann die erotische Anziehung zwischen Mann und Frau bedeuten. Es kann die aufmerksame Zuwendung der Eltern gegenüber ihrem Kind gemeint sein. Das Aufhören von Einsamkeit durch die Zuneigung eines Menschen und die Erfahrung von Sympathien, genauso wie das Mitfühlen mit dem Anderen, die freundliche Anerkennung und der Einsatz für benachteiligte Menschen.

Unser Predigttext handelt von dem, was das Ziel der Sehnsucht vieler Menschen ist, von der Liebe. Und er beginnt mit einem der Spitzensätze aus dem Neuen Testament, der dann näher entfaltet wird:

16b Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. 17 Darin ist die Liebe bei uns vollkommen, daß wir Zuversicht haben am Tag des Gerichts; denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt. 18 Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht rechnet mit Strafe. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe. 19 Laßt uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. 20 Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und haßt seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht? 21 Und dies Gebot haben wir von ihm, daß, wer Gott liebt, daß der auch seinen Bruder liebe.

„Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ Ganz konzentriert ist hier die Botschaft des Neuen Testaments ausgedrückt.

Luther hat dies sehr schön in ein Bild übersetzt, wenn er sagt: „Wollte einer Gott malen, er müßte einen Abgrund von Feuer malen – einen glühenden Backofen voll lauter Liebe. Gott ist eitel Liebe, ja die Liebe ist Gott selbst.“ Gott ist Liebe, das heißt die Zuwendung zum Anderen, die Zuwendung zu uns Menschen gehört ins innerste Wesen Gottes hinein. Die Aussage „Gott ist Liebe“ meint nichts geringeres, als daß Gott in seinem ganzen Sein durch und durch so von Liebe bestimmt ist, daß er mit der Liebe selbst identisch ist. Sein Tun und sein Sein ist lauter Liebe. Vom Anbeginn der Welt an, bis zu ihrem Ende.

Seine innere Klarheit bekommt dieser Satz freilich erst vom Sterben und Tod und von der Auferweckung Jesu von den Toten durch Gott her. Liebe zeigt sich hier gerade darin, daß Gott, die Lieblosigkeit und die Gewalt, die Jesu widerfährt nicht auf gleiche Art erwidert, sondern an sich erträgt und aushält, für uns aus Liebe. Zu dieser Liebe gehören deshalb nicht nur schöne Gefühle, sondern die Kraft, dem Negativen standzuhalten, ja den Tod zu überwinden.

Unmittelbar vor unserem Predigttext heißt es im gleichen Kapitel (Vers 9): „Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, daß Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen.“ Gottes Liebe, das ist eine lebendig machende Kraft; und so kann der Satz „Gott ist Liebe“ letztlich nur dort verstanden werden, wo Menschen diese Kraft an sich selbst erfahren. Wo sie sich die Liebe Gottes gefallen lassen, sich ihr öffnen und durch sie bestimmen lassen. Der Satz „Gott ist Liebe“ ist so stets auch ein Bekenntnis und er drückt zugleich die Zuversicht aus, daß die Liebe niemals aufhört und auch alles Trennende und Zerstörerische in unserem Leben und auf der Welt letztlich zu Gunsten des Lebens überwunden werden.

„Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“. In unserem Predigttext geht es nicht nur darum, daß wir Liebe erfahren, sondern daß wir auch in ihr bleiben, d.h. uns immer wieder aufs Neue von ihr ergreifen lassen und so aus dem Aufnehmen auch ein eigenes Übernehmen und Tätigwerden entspringt.

Was geschieht mit einem Menschen, der sich der Kraft der Liebe Gottes aussetzt? Ihn ergreift eine neue Energie. Er erfährt sich im Inneren seines Lebens bejaht und angenommen. Er wird frei von der ängstlichen Sorge um sich selbst und bereit anderen Menschen mit Freundlichkeit, Anerkennung und Wohlwollen zu begegnen. Es geht um das Bleiben in der Liebe, um die Erkenntnis, daß die erfahrene Annahme meines Selbst zugleich die Befähigung bedeutet, auch andere anzunehmen. Ich muß auf die Menschen, die mir begegnen, hier im Seniorenstift, auf die Schwestern und Pfleger, auf die Zimmernachbarinnen und -nachbarn nicht mit Skepsis und Mißtrauen reagieren. Ich kann ihnen offen entgegengehen. Und wenn mein Vertrauen einmal enttäuscht worden ist, brauche ich mich nicht bitter zurückzuziehen und alle Kontakte abzubrechen. Ich bekomme die Kraft, den ersten Schritt zu tun und wieder neu mit dem Mitmenschen anzufangen.

Das sind die Auswirkungen der Liebe bei uns selbst: „Furcht ist nicht in der Liebe“. Wer in der Liebe lebt, der kann „frei von der Leber weg“ , ohne Scheu reden und sich ausdrücken. Er braucht sich keine Gedanken zu machen, wie kommt das, was ich sage, bei anderen an, wer wird mich vielleicht von oben herab belächeln?

Wer sich von der Fülle der Liebe Gottes getragen weiß, der ist von der allerletzten Angst um den Wert und Sinn seines Lebens befreit. Wer sich von Gott angenommen weiß, der wird wach und hellsichtig für die Gefahren, die das Zusammenleben der Menschen bedrohen: Gleichgültigkeit, Haß und Befangenheit in eigenen Wünschen.

Gott ist Liebe, das heißt: Vertrauen zu Gott ist möglich, trotz aller Dunkelheit, trotz Angst, Versagen und Schuld in unserem Leben. Vertrauen ist möglich zu mir selbst, zu anderen Menschen, zum Leben in der Welt. Wir sind letztlich einander zur Freude gegeben. Von diesem Geist der Liebe sich bestimmen zu lassen, das kann bedeuten: Sich selbst und andere Menschen als ein Geschenk Gottes anzusehen, als jemanden, in dem Gottes Liebe zu ihrem Ziel kommen kann. Mit den Augen dieser Liebe zu sehen, das läßt uns erkennen, was über den Augenschein hinaus möglich werden kann.

Wenn wir jetzt das Abendmahl zusammen feiern, dann soll darin deutlich werden, daß Gottes Liebe jedem Menschen gilt: alle sind eingeladen, sich auf diese Liebe Gottes einzulassen. Daß wir immer wieder neu von der Liebe Gottes durchdrungen werden und uns selbst und mit anderen daran erfreuen können, daß wünsche ich uns allen. Amen.

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