Onkel Hermann

Koch meint…

Mit meinem zweiten, von meinem Vater her stammenden Vornamen hab ich’s nicht so. Im Gegenteil: Ich erwähne ihn nur, wenn es gar nicht anders geht! Dabei ließe sich besagtes „Hermann“, das für meine Ohren viel zu altmodisch klingt, auch auf die Initiale „H.“ verkürzen. Aber für ein „Andreas H. Koch“ bin ich wahrscheinlich nicht eitel genug.

Wie dem auch immer sei: In diesen ersten Januartagen bin ich, was meinen ungeliebten Mittelnamen anbelangt, ins Grübeln gekommen. Grund dafür ist ein altes Foto, das ich beim Durchblättern eines Albums entdeckt habe. Es ist wohl vor etwa einhundert Jahren entstanden, in dem damals üblichen Braunton gehalten und zeigt einen stattlichen jungen Mann in Uniform. Vorn auf dem Bild heißt es: „Alexander Osswald, Ludwigsburg, bei der Garnisonskirche“. Hintendrauf aber liest man mit Bleistift und von Hand geschrieben: „Onkel Hermann Koch“. Wobei der eine Name für den Fotographen, der andere für den Abgebildeten steht.

Kindheitserinnerungen werden wach. An die gute Stube der Großtanten, wo dasselbe Foto, wenn auch sehr viel größer und schön eingerahmt, über dem Harmonium seinen Ehrenplatz hatte. „Das ist der Onkel Hermann“, pflegten Amalie und Emma immer mal wieder traurig zu sagen. „Der ist gefallen.“ Was genau das bedeuten sollte, war mir als Kind nicht klar. Bis auf eins: Onkel Hermann lebte nicht mehr.

Längst sind auch die Großtanten tot und mit ihnen all jene, die mir etwas über Onkel Hermann, meinen Urgroßonkel, erzählen könnten. Von dem ich nur ein Zweites noch weiß: Über meinen Vater ist sein Vorname auf mich gekommen. Ansonsten weiß ich nichts, und meine zu spät gestellten Fragen müssen ohne Antwort bleiben: Wann ist Onkel Hermann geboren? Was für ein Mensch ist er gewesen? Welchen Beruf hat er erlernt? Warum ist er in den Krieg gegangen? Wo hat er gekämpft? In welcher Schlacht wurde er getötet? Ypern, Marne und Verdun, die ganze schreckliche Westfront des Ersten Weltkriegs fallen mir als Schulbuchwissen ein. Ist es da gewesen, wo aus dem selbstbewussten Blick auf dem Foto ein Ausdruck von Verzweiflung geworden ist? Vergeudetes Leben jedenfalls, Verrat an einer ganzen Generation! „Es gab in der Menschheitsgeschichte“, schreibt der Historiker Klaus Wiegrefe, „unzählige Kriege, aus Freiheitsstreben, aus Rache, aus wirtschaftlichen Gründen; der Krieg, der sich im Sommer 1914 über Europa ausbreitete, war an Sinnlosigkeit schwer zu überbieten.“ Auch Onkel Hermann ist sinnlos gestorben.

In diesem neuen Jahr 2014 ist der Erste Weltkrieg ganz nah – mir persönlich nicht zuletzt durch Onkel Hermann, obwohl von ihm nichts, aber auch gar nichts geblieben ist: kein Grab, keine Frau, keine Kinder und Kindeskinder, ja nicht einmal ein Hauch von wirklicher Erinnerung. Sogar das große Bild aus der guten Stube meiner Großtanten ist verschwunden. Nur das kleine Foto in dem Album ist noch da. Und Onkel Hermanns Vorname, der über meinen Vater auf mich gekommen ist. Mag er auch noch so altmodisch klingen: Ich werde meinen Mittelnamen in Zukunft nicht mehr schamvoll verschweigen. Schließlich ist er das Einzige, worin Onkel Hermann noch weiterlebt. Und auch das Foto will ich in Ehren halten. Es sagt mir: Krieg darf um Himmels willen nie wieder sein!

Das meint Koch. Und was meinen Sie?

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