Hebräer 12,12-25

Stärkt die müden Hände und die wankenden Knie, und macht sichere Schritte mit eueren Füßen, damit nicht jemand strauchele wie ein Lahmer, sondern vielmehr gesund werde.

Jagt dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird, und seht darauf, daß nicht jemand Gottes Gnade versäume; daß nicht etwa eine bittere Wurzel aufwachse und Unfrieden anrichte und viele durch sie unrein werden; daß nicht jemand unzüchtig sei oder gottlos wie Esau, der um der einen Speise willen seine Erstgeburt verkaufte. Ihr wißt ja, daß er hernach, als er den Segen ererben wollte, verworfen wurde, denn er fand keinen Raum zur Buße, obwohl er sie mit Tränen suchte.

Denn ihr seid nicht zu dem Berg Sinai gekommen, den man berühren konnte. Ihr seid nicht zum lodernden Feuer gekommen, zur Dunkelheit und schwarzen Nacht, zum Sturm, zum Schall der Posaune und zu der donnernden Stimme. Als das Volk Israel diese Stimme hörte, bat es darum, kein weiteres Wort hören zu müssen. Der Anblick war so furchtbar, daß sogar Mose sagte: „Ich zittere vor Angst“.

Sondern ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu den vielen tausend Engeln, und zu der Versammlung und Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel aufgeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten und zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus, und zu dem Blut der Besprengung, das besser redet als das Blut Abels.

Liebe Gemeinde!

1. (a) Die Situation der Empfänger …

Die Gemeinde, an die der Brief gerichtet ist, aus dem unser heutiger Predigttext stammt, hat schlimme Erfahrungen machen müssen. Nichts war mehr wie früher. Christen waren sie einst geworden, voller Hoffnung und Freude. Stark war ihr Glaube gewesen in den ersten Jahren, in der frühen Zeit. Sie lebten als Christengemeinde damals noch unter dem Schutz der Synagoge, der jüdischen Religion.

Doch dann war die Zeit gekommen, als man sie dort nicht mehr dulden wollte. Der Weg zum Tempel in Jerusalem, zum Gottesdienst der jüdischen Gemeinde war der jungen Christenheit versperrt. Die Juden begannen, die Christengemeinden zu bedrücken und auszugrenzen. Das Gespräch mit ihnen war unmöglich, eine Versöhnung war aussichtslos geworden.

Dazu kamen die häufiger werdenden Verfolgungen seitens der römischen Staatsmacht. Die Christen wurden Freiwild. Sie wurden von Denunzianten angezeigt, in der Nacht aus ihren Häusern gezerrt und eingesperrt. Viele wurden gefoltert, manche kamen dabei um.

Wer in dieser Situation als Christ überlebte, befand sich in einer trostlosen Lage. Die Freude über den eigenen Glauben konnte einem da ziemlich vergehen. Manche Christen in der damaligen Zeit dürften sich gefragt haben: „Haben wir alles falsch gemacht? War es richtig, mit der überlieferten Religion des Mose zu brechen und den Anhängern dieses Jesus von Nazareth nachzulaufen? Wäre es nicht besser gewesen, Juden zu bleiben statt Christen zu werden? Soll das ein fröhliches Christenleben sein? Mißerfolge, Verfolgungen, Verleumdungen?“

Da ist es nur zu verständlich, wenn die Christen damals unter müden Händen, wankenden Knien zu leiden hatten und ihre Schritte sehr unsicher waren. Sie fragten: Hält denn unser Glaube, was er verspricht?

1. (b) … ist der unseren ähnlich

Liebe Gemeinde, müde Hände, wankende Knie, unsichere Schritte, gefährlich krumme Wege – das alles sind Erfahrungen, die viele Christen auch heute gemacht haben und machen: im Leben und im Glauben.

Zum einen denke ich da besonders an die Älteren unter uns. Sie können ein Lied davon singen. Vieles ist nicht mehr wie früher. Wenn man morgens aufsteht und lustlos ist, man am liebsten im Bett bleiben würde, weil die Beine nicht mehr so recht wollen und es gar nichts geben will, auf das man sich freuen kann. Wenn man sich immer mehr zu fragen beginnt, wofür es sich eigentlich noch lohnt, gegen die bleierne Müdigkeit und Leere anzukämpfen, die einen oft überfällt.

Vielleicht sind es aber auch Aus- und Übersiedler, die sich oft fragen, ob es nicht besser gewesen wäre, in der alten Heimat zu bleiben, als in einem Deutschland zu leben, das so anders geworden ist, und ihnen in vielem fremd bleibt. Hier werden täglich viele unsichere Schritte getan.

Ich denke auch an viele Jugendliche, die mit ihrer Welt nicht mehr zurechtkommen, die den Glauben an ihre eigene Zukunft verloren haben und deren Motto oft „null Bock“ ist. Keine Lust mehr, in ihr Leben zu investieren, weil es sich nicht zu lohnen scheint.

Neben diesen Lebenserfahrungen gibt es aber auch Glaubenserfahrungen, die in dieselbe Richtung gehen: Was gibt mir mein Glaube noch? Ich gehe Sonntag für Sonntag in die Kirche und es ändert sich nichts – mein Leben ist und bleibt wie es war. Die Freude am Glauben ist geschwunden, auch in der Gemeinde, auch in der Kirche gibt es Streit, Mißgunst und Ausgrenzung. Eben noch haben wir Weihnachten gefeiert mit den Engeln und den Hirten auf dem Feld, haben das Kind in der Krippe gesehen, die Hoffnung für die Welt – und schon ist wieder der Alltag eingekehrt, mit seinen Problemen und Enttäuschungen. Nicht nur unsere Konfirmanden fragen: Soll das alles sein, was am christlichen Glauben dran ist?

2. (a) Die Ermunterung. Nicht Geworfene sind wir …

Liebe Gemeinde, mitten hinein in diese Ermüdungserscheinungen, Probleme und Enttäuschungen redet unser Predigtext von der großen Ermunterung, die uns allen gilt. Der Verfasser des Hebräerbriefes kommt auf uns zu mit einer großen Schatzkiste voller Lebens- und Glaubenserfahrung, die jeder Mensch nachvollziehen kann. Wer den Deckel aufmacht, dessen Blick wird frei auf eine Fülle solcher guten Erfahrungen.

2. (b) … sondern solche, die aus der Kraft handeln können

Zunächst sagt unser Text: Euere Situation ist ernst, aber nicht hoffnungslos! Ihr seid all dem, was euch widerfährt in euerem Leben nicht einfach ausgeliefert. Ihr habt ein Wort mitzureden bei alldem! Ihr braucht euch nicht stumm euerem Schicksal zu ergeben, ihr könnt etwas tun:

„Stärkt die müden Hände und die wankenden Knie, und macht sichere Schritte mit eueren Füßen, damit nicht jemand strauchele wie ein Lahmer, sondern vielmehr gesund werde.“

Das klingt wie ein Fitneßprogramm, und das will es auch sein. Denn wer Hände und Mundwinkel hängen läßt, der darf sich nicht wundern, wenn sie ihm in dieser Position eines Tages einfrieren. Wer in der geduckten Hocke bleibt, der bekommt irgendwann steife Glieder. Die erste Stufe des Fitneßprogramms, das uns der Hebräerbrief vorschlägt lautet: Kommt wieder in Bewegung!

3. Was für einen Christen dran ist …

Nach der ersten Stufe folgt die zweite: Jagt dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird, und seht darauf, daß nicht jemand Gottes Gnade versäume;

Wie die Jäger des verlorenen Schatzes sollen wir dem Frieden nachjagen. Doch was ist gemeint mit diesem oft mißbrauchten Wort? Ist es der Friede am Verhandlungstisch, der sich jeden Tag ändern kann? Ist es die große Vision vom Frieden, in der der Löwe Gras frißt und die Katze das Mausen läßt? Darauf wartet die Welt seit Anbeginn.

Unserem Text geht es um den Frieden, der Beziehungen zwischen Menschen erst ermöglicht. Der Friede, dem es nachzujagen gilt meint:

es stimmt zwischen mir und dir

es stimmt zwischen Eltern und Kindern

es stimmt zwischen Mann und Frau

es stimmt zwischen Lehrern und Schülern

es stimmt zwischen Pfarrer und Gemeinde

es stimmt zwischen Arbeitskollegen und Freunden

es stimmt zwischen uns hier in der Heilig-Geist-Kirche in Amorbach!
Wir sind in unseren Beziehungen zu den Mitmenschen im Reinen, wir können ihnen in die Augen sehen und haben gelernt, sie zu achten. Diesem Frieden sollen wir nachjagen und zwar vom Zähneputzen am Morgen bis zum Löschen des Lichtes vorm zu Bett gehen in der Nacht.

Gehen wir einmal unseren Tag durch und fragen uns – wo haben wir das erlebt, daß unser Verhältnis zum anderen Menschen in Ordnung war?

Der Heiligung sollen wir nachjagen – wie kann das gehen? Heilige sind in unserer Zeit selten geworden. Wir hören schon eher das Wort von dem komischen Heiligen, der nicht mehr so ganz ernst zu nehmen ist, weil er nicht mehr in seine Zeit zu passen scheint. Christen sollen keine komischen Heiligen sein, meint unser Text, denn eine lachhafte Figur hat vor Gott und der Welt keine Chance. Geheiligt ist ein Mensch, der von Gott berufen ist, seine Fähigkeiten zum Wohle eines anderen und zum Lob Gottes einzusetzen. Das meint Heiligung: Achtet auf euer Leben, achtet darauf, was zu tun ist, daß ihr die Gemeinschaft mit den Mitmenschen und mit Gott nicht verfehlt. Das kann ein gutes Wort, eine Stunde Zeit, eine helfende Hand sein, die Gemeinschaft wieder ermöglicht und neu beginnen lassen.

Haben wir schon einmal darüber nachgedacht, welche Begabungen und Fähigkeiten wir haben, die wir dazu nutzen können, anderen Menschen zu helfen und zu dienen? Haben wir schon einmal daran gedacht, daß Gott solche Gemeinschaft unter uns will und uns versprochen hat, in unserer Mitte zu sein?

Wo Christen im Frieden miteinander und in der Heiligung zusammen als Gemeinde leben, da wird Gott in ihrer Mitte erfahrbar werden. Dort wird deutlich werden, daß die Verheißungen des christlichen Glaubens keine leeren Versprechungen sind, die ja doch nicht gehalten werden können.

Der Hebräerbrief lädt uns dazu ein, die Probe aufs Exempel zu machen. Vorerfahrungen haben wir dazu genug:

Wir wissen wir gut es ist, wenn man sich in der Familie und im Freundeskreis auf Menschen verlassen kann ohne Angst zu haben, daß man in der Not doch wieder alleine ist. Wir haben erlebt, wie gemeinsam angepackte Arbeit Kraft geben kann, weil der andere mitgeholfen hat. Wir haben gesehen, was passiert, wenn Menschen sich im Betrieb oder in der Gemeinde beraten und aufeinander hören und nicht ständig versuchen, den anderen auszubooten.

Wir haben gespürt wie wichtig es ist, eine Möglichkeit zu haben, über seine Schwächen und Probleme reden zu können, wenn der andere Mensch einen nicht auslacht oder zum Schwächling erklärt.

Dies alles, sagt unser Text, ist in der Gemeinde Jesu Christi möglich, hier in Amorbach. Dies alles wird erreicht, wenn wir beginnen, dem Frieden und der Heiligung nachzujagen. Dann wird in unserer Mitte die Menschenfreundlichkeit unseres Gott aufscheinen, der uns Gemeinschaft schenken will.

4. Die Ermunterung aus dem Evangelium

Dies ist die Ermunterung aus der Lebens- und Glaubenserfahrung, liebe Brüder und Schwestern in Amorbach, das ist das Fitneßprogramm für müde gewordene und schlaffe Christen, die vergessen haben, welche Schätze für sie bereitgehalten werden. Der Verfasser des Hebräerbriefes hat seiner Gemeinde aber noch mehr zu geben. Er hält am Ende das Wichtigste bereit: die große Ermunterung aus dem Evangelium, der guten Nachricht von Jesus Christus. Der Gemeinde, die sich zweifelnd fragt, ob es nicht besser gewesen sei, bei ihrem alten jüdischen Glauben zu bleiben, der ihnen Sicherheit und Trost gegeben hatte, antwortet er:

„ihr seid nicht zu dem Berg Sinai gekommen, den man berühren konnte. Ihr seid nicht zum lodernden Feuer gekommen, zur Dunkelheit und schwarzen Nacht, zum Sturm, zum Schall der Posaune und zu der donnernden Stimme. Als das Volk Israel diese Stimme hörte, bat es darum, kein weiteres Wort hören zu müssen. Der Anblick war so furchtbar, daß sogar Mose sagte: „Ich zittere vor Angst“.“

Das meint: die von den äußeren Feierlichkeiten und Gottesdiensten der jüdischen Gemeinschaft ausgeschlossene Christengemeinde braucht den „alten Zeiten, in denen alles so schön war“ nicht nachzutrauern! Stattdessen:

„Sondern ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu den vielen tausend Engeln, und zu der Versammlung und Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel aufgeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten und zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus, und zu dem Blut der Besprengung, das besser redet als das Blut Abels.“

Die Christen sind Angehörige des Neuen, himmlischen Jerusalem, das schon jetzt in ihrer Mitte existiert: dort, wo Gemeinde lebt, wo Gott selbst unter ihnen ist. Es geht darum, daß die Gemeinde wahrnimmt, wer sie in Wirklichkeit ist: eine Festgemeinde, die Grund hat sich zu freuen, weil sie in Gottes neuer Stadt aufgenommen ist.

Wir, liebe Gemeinde, sind damit gemeint! Wir haben Grund zur Freude, denn wir haben einen, der uns zusammenführt, der uns zum Glauben gebracht hat und darin erhalten will: Jesus Christus, in dessen Geist wir leben, an dessen Tisch wir geladen sind, dessen Worte wir hören.

Vielleicht haben es die Christen in ihrer Geschichte zu oft vergessen, wer sie wirklich sind: geliebte Kinder eines großen Vaters, die sich freuen dürfen und dankbar sein können, weil sie teil haben an Gottes neuer Welt, schon heute, schon hier. Wir sind eingeladen, es ist alles bereit, das Fest hat begonnen. Amen.

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